Industriestandort Deutschland im Blickpunkt

Quo vadis, deutsche Reifenindustrie?

Michelin-Reifenwerk Bad KreuznachStandort mit Zukunft: In Bad Kreuznach fertigt Michelin nach eigenen Angaben “strategische High-Tech-Reifen”.  Foto: Michelin

Aachen, Fulda, Karlsruhe – das sind nur drei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit für die (geplante) Schließung von Reifenwerken, die die jeweiligen Regionen mitunter über Jahrzehnte geprägt haben. Die Gründe für die Entscheidung des jeweiligen Managements unterscheiden sich zuweilen, doch bestimmte Muster fallen auf. Veränderte Anforderungen des Marktes, Überkapazitäten, zunehmender Wettbewerbsdruck – je nach Segment insbesondere durch asiatische Hersteller – oder schlicht steigende Kosten werden immer wieder angeführt, wenn es gilt, die Entscheidung zur Schließung eines Standortes mit oftmals vielen Hundert Beschäftigten zu begründen. 

Darüber hinaus wird seitens der Verantwortlichen häufig auf die enormen Investitionen in die Modernisierung der Werke der letzten Jahre verwiesen, die jedoch nicht ausreichend waren, um auf wettbewerbsfähigem Niveau zu produzieren. So hatte etwa Goodyear erst 2019 mehr als 100 Millionen Euro in seine Standorte Fulda und Hanau investiert, in diesem Zuge allerdings auch rund 1.000 Arbeitsplätze gestrichen. Einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag hat zudem Michelin nach eigenen Angaben in den vergangenen Jahren für die Modernisierung seiner deutschen Werke ausgegeben. 

Vier Standorte stehen vor dem Aus 

Bezüglich der Faktoren Konsolidierung und Überprüfung der eigenen Produktionsstruktur sind in den letzten Monaten vor allem zwei Akteure medial in den Fokus gerückt. Die von Goodyear und Michelin verkündeten Vorhaben – wahlweise als “Transformationspläne” oder auch als “Restrukturierungsmaßnahme” euphemisiert – betreffen alleine in Deutschland in Summe rund 3.300 Arbeitsplätze. Bei Goodyear sind es zwei Standorte, an den die Produktion eingestellt werden soll. Neben dem brandenburgischen Fürstenwalde gehört dazu auch das mehr als 100 Jahre alte Werk in Fulda. 

Michelin wiederum zielt mit seinen Maßnahmen auf gleich drei seiner hiesigen Werke. In Trier, Karlsruhe und Homburg soll die Reifen- respektive Wulstkernfertigung eingestellt werden. Beide Reifengiganten hatten die Anzahl ihrer Produktionsstandorte in Deutschland bereits in den letzten Jahren verringert. Das Michelin-Werk in Hallstadt bei Bamberg wurde Ende 2020 geschlossen, die Schließung des Goodyear-Werks in Philippsburg liegt knapp sechs Jahre zurück. Erst Ende 2022 hatte zudem Continental sein Reifenwerk in Aachen geschlossen.

Speziell die jüngsten Pläne von Goodyear und Michelin sind für Francesco Grioli, Vorstandsmitglied der IG BCE und zuständig für Branchen und Betriebspolitik, nicht nachzuvollziehen. Bereits kurz nach Bekanntwerden der Vorhaben hatte der Gewerkschafter gefordert: „Wir erwarten gerade von diesen traditionsreichen Unternehmen auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ein klares Bekenntnis zu den deutschen Standorten und mehr Einsatz für die Beschäftigten, die oft schon in zweiter oder dritter Generation in den Reifenwerken arbeiten.“

Abwärtstrend seit 2015

Die Forderung der Arbeitnehmervertreter ist verständlich. Die Schließung eines Standortes sagt immer auch etwas über die Qualität von Management-Entscheidungen und -Strategien aus. Fest steht aber auch: Die Produktionsbedingungen für die hiesige Industrie waren bereits besser. Im Interview mit dem ADAC bringt es Ariane Reinhart, als Vorständin bei Continental für die Ressorts Nachhaltigkeit und Personal zuständig, wie folgt auf den Punkt: “Der Industriestandort Deutschland ist erkrankt, wir verlieren an Wettbewerbsfähigkeit. Energiekosten und Strompreise sind im Vergleich zu anderen Ländern zu hoch. Und wir leiden unter zu viel Bürokratie, zu wenig Digitalisierung und einem chronischen Arbeitskräftemangel.” Auch der neue wdk-Präsident Michael Klein kritisiert, “dass insbesondere die energiepolitischen Rahmenbedingungen am Hochlohn-Standort Deutschland selbst innerhalb Europas nicht mehr wettbewerbsfähig sind.“ 

Ungeachtet der jüngsten Entwicklungen ist die Anzahl der in Deutschland produzierten Pkw-Reifen darüber hinaus seit Jahren rückläufig. Wurden im Jahr 2015 noch rund 61 Millionen Einheiten hierzulande hergestellt, waren es 2022 mit ca. 32,5 Millionen nur noch etwa die Hälfte. Mittelfristig dürfte dieser Trend als Folge der angekündigten Werksschließungen weiter voranschreiten – auch wenn sich Michelin hierzulande vor allem aus der Lkw-Reifenfertigung zurückzieht. 

Der französische Reifenriese sieht ebenfalls die hiesige Politik gefordert: „Es geht jetzt nicht mehr um West oder Ost, sondern darum, Europa und insbesondere Deutschland wettbewerbsfähig zu halten“, sagte Maria Röttger, Präsidentin und CEO der Region Europa Nord bei Michelin, gegenüber der Welt. “Es ist nicht mehr ausreichend, mit Absichtserklärungen zu agieren. Wir brauchen eine Industriestrategie, die Mittelstand und Großunternehmen mit einbezieht – und dem müssen Taten folgen.”

Politische und unternehmerische Verantwortung 

Eine solche Strategie hat Wirtschaftsminister Robert Habeck im Oktober vergangenen Jahres vorgelegt. Zwar stößt diese vielerorts prinzipiell auf Zustimmung, greift einigen Verantwortlichen aber dennoch zu kurz. Zudem sind speziell hinsichtlich der Finanzierung – etwa des Ausbaus erneuerbarer Energien oder eines subventionierten Industriestrompreises – noch einige Fragen mit den Koalitionspartnern zu klären. Bei aller berechtigten Kritik an der Ampel-Regierung ist an dieser Stelle allerdings festzuhalten, dass auch Politiker bereits einfacherere Arbeitsbedingungen – Stichwort multiple Krisen – vorgefunden haben. 

Darüber hinaus sehen Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter die Situation in der Reifenindustrie nicht allein durch politisch-wirtschaftliche Gründe verursacht. Francesco Grioli verweist gegenüber der Welt auf das Potenzial vernetzter Reifen: „Ich glaube, dass im Reifen noch so viel Innovation drinsteckt, auch im Lkw-Reifen. Das geht nicht nur über die Kosten. Wenn wir nur Kautschuk produzieren, nehmen wir uns die Chance, in einem Zukunftsmarkt dabei zu sein.“ 

Dass intelligente und kommunizierende Reifen – auch im Hinblick auf das autonome Fahren – an Bedeutung gewinnen, zeigen die vielfältigen derartigen Projekte, die die Reifenindustrie auf den Weg gebracht hat. Mit Blick auf die Reduzierung seiner Produktionspräsenz in Deutschland hat Michelin zudem den Standort Bad Kreuznach von seinen Plänen ausdrücklich ausgenommen. Vielmehr will der Konzern das Werk modernisieren und dort vor allem Profile ab 18 Zoll aufwärts sowie “strategische High-Tech-Reifen” produzieren. 

“Weiterentwicklung statt Abwicklung”

Dass sich Michelin von alternativen Betriebsmodellen für seine von einer Schließung bedrohten Anlagen überzeugen lässt, scheint fraglich. Zumindest aber könnte der Konzern mögliche Nachnutzungskonzepte begleiten. Solche wurden etwa bereits auf den ehemaligen Michelin-Werksarealen in Bamberg sowie im schottischen Dundee umgesetzt. “Unsere Verantwortung endet nicht, wenn wir ein Werk schließen”, hatte Maria Röttger im Jahr 2022 mit Verweis auf den Cleantech Innovation Park in Bamberg gesagt. 

Für die Mitarbeitenden der ehemaligen Reifenwerke ist das kein wirklicher Trost, zumal sicherlich nicht für alle ein neuer Job mit passendem Profil entsteht. Welche Rolle Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in diesem Zuge dennoch spielen, haben wir an anderer Stelle bereits ausführlich beschrieben. Auch Continental bemüht sich für seinen ehemaligen Produktionsstandort in Aachen um eine Nachfolgenutzung und konnte jüngst entsprechende Fortschritte in dieser Hinsicht verkünden. Der Aachener Projektentwickler Landmarken übernimmt das Gelände zum 1. Juli 2024 und strebt eine gewerbliche und leichtindustrielle Nachnutzung an.

Mit der fortschreitenden Transformation innerhalb der (Zulieferer-)Industrie und den gleichzeitigen ökologischen und digitalen Veränderungen, die die Politik vorantreiben will und muss, sind viele Herausforderungen verbunden. An vorderster Stelle sollten dabei stets die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Blick genommen werden, fordert IG Metall-Chefin Christiane Benner. Sie ist zugleich überzeugt: “Rechnerisch geht der Wandel gut aus. Es gäbe genug Arbeitsplätze in der grünen Industrie.” Dass diese auch entstehen und tatsächlich besetzt werden können, bedarf vereinter Anstrengungen von Politik und Industrie. Diese Bemühungen sind integraler Bestandteil dessen, was Christiane Benner bereits im Rahmen ihrer Bewerbungsrede als neue IG Metall-Chefin im Herbst vergangenen Jahres wie folgt auf den Punkt brachte: “Unsere Industrie in Deutschland muss weiterentwickelt und nicht abgewickelt werden.” Das gilt nicht nur, aber angesichts der Meldungen der jüngeren Vergangenheit explizit auch in der Reifenindustrie. 

Umweltstandards als Produktionsvorteil?

Für den Erhalt der hiesigen Reifenindustrie setzt sich seit Kurzem auch ein überparteiliches Bündnis aus Bundestagsabgeordneten ein, in deren Wahlkreisen Reifenfabriken liegen. Die Politiker von SPD und FDP haben sich in einem gemeinsamen Schreiben mit konkreten Anliegen an das Bundeskanzleramt und das Bundes­wirtschaftsministerium gewandt. Eine Kernforderung ist etwa “massive Unterstützung der betroffenen Werke beim Umstieg auf eine neue Energieversorgung”. „Dazu müssen wir die Reifen-Produktionsstandorte von Anfang an beim Ausbau des deutschen Wasserstoff-Kernnetzes berücksichti­gen”, so der Appell des SPD-Abgeordneten Dr. Joe Weingarten, in dessen Wahlkreis das Michelin-Werk Bad Kreuznach liegt.

Auf seiner Website führt der Politiker diesbezüglich aus: „Die Gummi- und Reifenproduktion muss genauso wie etwa die Stahlproduktion in Deutschland als strategische Industriesparte gesehen und entsprechend unterstützt werden.“ Es gelte, “indu­strielle Kernfähigkeiten in Deutschland zu erhalten.“ In diesem Zusammenhang plädiert das Abgeordneten-Bündnis auch dafür, die Wettbewerbs­nachteile deutscher Reifenproduktion gegenüber asiatischen Standorten durch Klima­zölle auszugleichen. „Es kann nicht sein, dass wir hier umweltschonend und mit fairen Löhnen produzieren und das durch Dumping aus Asien kaputt gemacht wird“, so Weingarten. Dafür, dass Umweltstandards ein Produktionsvorteil für Deutschland werden, will der Parlamentarier sich mit seinen Amtskollegen einsetzen – und ein gemeinsames Vorgehen der deutschen Reifen­industrie, der Bundes- und Landesregierungen, der Betriebsräte und der Gewerkschaft IG BCE erreichen. Das Interesse am Erhalt der hiesigen Reifenindustrie sollte bei allen Beteiligten gleichermaßen hoch sein.   

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