Zukunftsfeld Altreifen-Recycling

Rasante Entwicklungsschritte

AdobeStock_Altreifenstapel_web3,5 Millionen Tonnen Altreifen fallen pro Jahr in ganz Europa an.  Foto: sida - stock.adobe.com

Mehr als 650.000 Tonnen Altreifen fallen alleine hierzulande jährlich an, 3,5 Millionen Tonnen sind es europaweit. War für das Gros dieser Reifen über viele Jahre hinweg als finaler Verwertungsschritt die Verbrennung etwa in Zementwerken vorgesehen, hat sich diesbezüglich inzwischen einiges getan. Zwar wird laut Branchenexperten nach wie vor etwa ein Drittel der pro Jahr in Deutschland anfallenden Altreifenmenge thermisch verwertet. Doch alternative Möglichkeiten sind im Aufwind. So haben etwa die Runderneuerung ebenso wie die stoffliche Verarbeitung alter Reifen zu Gummigranulat oder Gummimehl in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Letzteres findet in Bodenbelägen, Straßenasphalt oder Dichtungsmaterialien Verwendung. 

Eine ungleich höhere Dynamik entfaltete sich in der jüngeren Vergangenheit jedoch insbesondere im Bereich der chemischen Verwertung. Mit ausgefeilten Pyrolyse-Technologien erobern sich Spezialisten wie die Pyrum Innovations AG, Scandinavian Enviro Systems oder auch der polnische Konzern Reoil Marktanteile in einem sich in zunehmendem Maße offenbarenden Zukunftsfeld. Zum einen sind nämlich die Fahrzeugbestände in den letzten Jahren kaum nennenswert zurückgegangen: Zum 1. Januar 2023 waren laut Kraftfahrt-Bundesamt rund 48,8 Millionen Pkw (+0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr) hierzulande registriert. Hinzu kommt, dass Reifen mittelfristig unabhängig von der Antriebsart eines Fahrzeugs ein essenzieller Bestandteil der Mobilität bleiben und zudem weiterhin in regelmäßigen Abständen ersetzt werden müssen. Dass zudem ein Verbot der Altreifenentsorgung über die Zementindustrie – wie es in Teilen Skandinaviens bereits in Kraft ist – hierzulande ab 2025 im Raum steht, macht die Etablierung alternativer Verwertunsgmethoden umso drängender. 

Wertstoff Altreifen

Während also auf der einen Seite eine weiterhin große Menge an anfallenden Altreifen zu erwarten ist, ist auf der anderen Seite auch das Interesse an den aus den Altreifen extrahierten Stoffen groß. An erster Stelle steht hier sicherlich der wiedergewonnene Ruß (recovered Carbon Black, rCB). Die deutlich geringeren CO2-Emissionen gegenüber der Verwendung von herkömmlichem Ruß machen rCB zu einem großen Hebel für Reifenhersteller in ihren Bemühungen um eine nachhaltigere Produktion. In den Zielvorgaben – wie sie inzwischen nahezu alle großen Player der Reifenindustrie definiert haben – sind signifikante Einsparungen in der Produktion durch nachhaltigere Ausgangsstoffe wie rCB fest eingeplant. 

Das offensichtliche Einsparpotenzial wird durch ISCC-Zertifizierungen bestätigt. Vor wenigen Wochen erst hat Enviro zum zweiten Mal nach 2021 eine solche Zertifizierung sowohl für sein rCB als auch für sein Pyrolyseöl erhalten. Mit Blick auf den wiedergewonnenen Ruß von Enviro bestätigt die ISCC-Zertifizierung um bis zu 93 Prozent geringere CO2-Emissionen als bei der Verwendung einer entsprechenden Menge fossilen Rußes. 

Derartige Bewertungen kann auch die Pyrum Innovations AG vorweisen. Eine erste kürzlich veröffentlichte Studie des Fraunhofer Instituts bescheinigt dem Pyrolyse-Verfahren des Unternehmens deutliche Vorteile in den Kategorien globale Erwärmung, Feinstaub und Ressourcenverbrauch. Für die Untersuchung wurde die Pyrum-Pyrolyse im Rahmen eines Life Cycle Assessments (LCA, Ökobilanz) mit anderen Reifenentsorgungsmethoden wie der Verbrennung in Zementwerken oder der stofflichen Verwertung verglichen. Die auf der gesamten Prozesskette der Linie 1 des Pyrum-Werks in Dillingen basierenden Daten ergeben für das Pyrum-Pyrolyseverfahren eine CO2-Einsparung von 703 Kilogramm CO2-Äquivalent pro Tonne Altreifen. Damit wird der aktuelle Recyclingmix in Deutschland von 561 Kilogramm CO2-Äquivalent pro Tonne Altreifen deutlich übertroffen. Mit der im März 2022 erlangten Zertifizierung für das von Pyrum wiedergewonnene Ruß ist neben dem Pyrolyseöl auch das zweite Endprodukt des Pyroylseprozesses entsprechend geprüft. Während das rCB vorwiegend für die Reifenherstellung weiterverwendet wird, liefert Pyrum sein Öl etwa an die BASF. Auch der in den Reifen enthaltene Stahl findet seinen Weg zurück in die Industrie. 

Speziell mit Blick auf die Reifenindustrie ist eine neue Art Ruß interessant, die Enviro nach eigenen Angaben kürzlich in seiner Anlage im schwedischen Åsensbruk wiedergewonnen hat. Dieser neue rCB-Typ verfügt nach Aussage der Enviro-Verantwortlichen über verbesserte Dispersionseigenschaften, was die Wechselwirkung mit Chemikalien und anderen Inhaltsstoffen etwa bei der Herstellung von Reifen oder Gummiprodukten verbessern und zu einem gleichmäßigen Endergebnis führen könnte. Langfristig soll sich damit ein höherer Substitutionsgrad für herkömmlichen Neuruß erreichen lassen.  

Europaweite Dynamik im Recyclingmarkt

Dass auch die Recycling-Spezialisten den auf absehbare Zeit vorhandenen Bedarf an Verarbeitungskapazitäten im Altreifenmarkt erkannt haben, verdeutlichen die Dimensionen, in denen sich die jüngsten kommunizierten Projekte bewegen. So strebt etwa der polnische Spezialist Reoil, der laut eigenen Angaben seit 2015 Europas größte Pyrolyse-Anlage für das Recycling von Altreifen betreibt, eine Verdreifachung seiner Kapazitäten an. Rund 20.000 Altreifen werden bei Reoil aktuell jährlich zu rCB und Pyrolyseöl verarbeitet, 60.000 sind ergo die neue Zielgröße. Für den Bau des dafür notwendigen zweiten Pyrolysewerks in XXL erhielt Zeppelin Systems den Finalisierungsauftrag, nachdem das Unternehmen 2019 bereits das Basic Engineering für das Projekt übernommen hatte. Das Unternehmen aus Friedrichshafen liefert dabei von der Anlagentechnologie über die Verfahrenstechnik und die finale Planung der Anlage alles aus einer Hand. Baubeginn für das auf elf Hektar Fläche konzipierte Werk ist bereits im Februar kommenden Jahres.

In ähnlichen Sphären wird auch beim Bau einer neuen Pyrolysenalage in Tschechien gedacht, die die Pyrum Innovations AG gemeinsam mit einem lokalen Partner realisiert. Bei der Inbetriebnahme 2025 soll die neue Anlage eine Kapazität von 20.000 Tonnen Altreifen pro Jahr aufweisen, wobei unter Einbeziehung der auf dem Grundstück vorhanden Gegebenheiten 2027 eine Verdopplung der Recyclingkapazitäten erfolgen kann. “Die Pläne unterstreichen außerdem die fortschreitende Internationalisierung unseres Unternehmens”, kommentierte Pyrum-CEO Pascal Klein die jüngste Vereinbarung. Weitere Projekte dieser Art verfolgt das Unternehmen europaweit, etwa in Griechenland, Finnland oder Estland. Hierzulande plant Pyrum unter anderem gemeinsam mit Remondis ein Werk in Bremen.

Parallel ist der Recycling-Spezialist auch im Saarland eifrig dabei, seine Verwertungsmöglichkeiten auszubauen. Die Erweiterung des Stammwerks Dillingen um zwei Produktionslinien befindet sich auf der Zielgeraden, wie Pascal Klein berichtet: “Bei der bereits abgeschlossenen Kalt- sowie der begonnenen Warminbetriebnahme ist alles hervorragend gelaufen und wir sind sehr zufrieden. Damit sind wir auf den letzten Metern unserer Standorterweiterung in Dillingen mit einer Verdreifachung unserer Kapazität auf 20.000 Tonnen Altreifen pro Jahr.” Die Genehmigungsbehörden haben laut Unternehmensangaben bereits grünes Licht für den Start der Produktion gegeben. Sobald diese gestartet ist, wird der Durchsatz der ersten neuen Linie sukzessive auf 75 Prozent hochgefahren. Bis beide neuen Linien mit voller Leistung arbeiten, können nach Aussage der Verantwortlichen jedoch noch mehrere Monate vergehen. Darüber hinaus entsteht auch in Homburg ein eigenes Pyroylsewerk von Pyrum mit einer geplanten Verarbeitungskapazität von 20.000 Altreifen pro Jahr. Für den Bau des mit drei Reaktoren ausgestatteten Werkes investiert das Unternehmen 35 Millionen Euro.

Ähnlich geografisch diversifiziert wie bei Pyrum sind die Pläne von Enviro noch nicht, wenngleich die Strategie und auch die Dimension der Projekte in dieselbe Richtung zielen. So steht im westschwedischen Uddevalla eine weitere Enviro-Anlage mit einer finalen Verarbeitungskapazität von rund 30.000 Tonnen Altreifen pro Jahr aktuell kurz vor der Fertigstellung. Mittelfristig soll das Leistungsvermögen auf 60.000 Tonnen und damit gut die Häfte des jährlichen schwedischen Altreifenaufkommens gesteigert werden. Eine jährliche Recyclingkapazität von 15.000 Altreifen hat ferner das seit 2013 betriebene Enviro-Werk in Åsensbruk.

Angebot und Nachfragen steigen

Weitere ebenfalls über ganz Europa verteilte Werke – unter anderem in Zusammenarbeit mit Michelin und Antin Infrastructure Partners – sind darüber hinaus in Planung. Im Rahmen eines Joint Ventures mit den beiden genannten Partnern lizenziert Enviro dafür seine patentierte Technologie auf exklusiver Basis in ganz Europa an das Gemeinschaftsunternehmen. Beim industriellen Hochlauf des Projekts soll zudem Siemens mit seiner Erfahrung im Bereich Automatisierung und Digitalisierung Unterstützung leisten. "Unser Expansionsplan sieht den Aufbau einer Gesamtverwertungskapazität von 900.000 Tonnen Altreifen bis 2030 vor. Im Mittelpunkt der Umsetzung des Expansionsplans steht der Abschluss langfristiger Lieferverträge für wiedergewonnene Materialien und Altreifen", sagte Enviro-CEO Thomas Sörensson bereits im Frühjahr 2022. Zumindest die letztgenannten Punkte dürften nicht zum Problem werden. Die Herausforderung für Akteure wie Pyrum und Enviro ist es aktuell eher, mit der rasant wachsenden Nachfrage Schritt zu halten. 

Zu dem ohnehin vorhandenen Interesse seitens diverser Reifenhersteller kommt eine weitere Nachfragesteigerung infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Ein erheblicher Teil des in europäischen (Reifen-)Werken verwendeten Rußes stammt aus Russland, Weißrussland und der Ukraine. Hinzu kommt, dass Europa seine Abhängigkeit vom russischen Öl verringern will und Öl wiederum ein wesentlicher Bestandteil für die Rußproduktion ist. „Dementsprechend wird sich der Krieg wahrscheinlich stark auf die Ruß-Versorgung in Europa und weltweit auswirken”, so die Prognose Sörenssons vor nunmehr anderthalb Jahren. 

Sicher ist Stand heute auf jeden Fall: Der industrieseitige Bedarf an Ruß ist immens und die Möglichkeit, durch den Einsatz von wiedergewonnenen Materialien nachhaltiger zu wirtschaften, gewinnt immer mehr an Bedeutung. Akteure wie Enviro, Pyrum oder Reoil haben kaum Probleme, Abnehmer für die recycelten Materialien zu finden. Die prognostizierten Mengen sind auf jeden Fall enorm: Die Enviro-Verantwortlichen rechnen damit, 2030 in den eigenen Recyclingwerken jährlich 300.000 Tonnen rCB, 135.000 Tonnen Stahl sowie 450.000 Tonnen Pyrolyseöl zu gewinnen. 

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